Brauchen wir Führung 4.0 für einen Wandel der Arbeitskultur? – Ein Praxisbericht von Dieter Boch, Geschäftsführer iafob Deutschland

Besprechung in Arbeitsumgebung

Die Digitalisierung bestimmt die Schlagzeilen und Unternehmen stehen unter Druck. Ihre Befürchtung: wer nicht mitmacht, wird abgehängt. Doch was kommt eigentlich auf die Unternehmen zu? Brauchen wir einen Kulturwandel, neue Führungsstrukturen, andere Formen der Zusammenarbeit? Verändert die Arbeitskultur die Führung oder ist ein neues Führungsverhalten notwendig? Brauchen wir Führung 4.0 für einen Wandel der Arbeitskultur? Das Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung (iafob deutschland) hat eine Organisation auf diesem Weg begleitet. Ein Praxisbericht.

Wenn der Wandel in eine neue Arbeitswelt erfolgreich sein soll, braucht es MitarbeiterInnen und Führungskräfte, die wissen, dass sich vieles verändern muss, denen aber die Digitalisierung nicht als eine Bedrohung oder als Schreckgespenst angekündigt wird. Führungskräfte und Mitarbeitende der Organisation starteten daher zunächst mit einem Kick-Off-Workshop, moderiert vom Institut für Arbeitsforschung und Organisationsberatung (iafob deutschland). Die sachlichen Fakten standen am Anfang des Prozesses.

Worum geht es?

Mit der Erfindung der Dampfmaschine begann ca. 1750 die industrielle Revolution – die Mechanisierung war geboren. Die zweite industrielle Revolution ca. 1870 brachte mit dem Fließband die Massenproduktion. Um 1960 herum begann die dritte industrielle Revolution mit der Automatisierung durch die Informations- und Kommunikationstechnologien. Seit etwa 2008 erleben wir die vierte industrielle Revolution: die digitale Transformation. Jeder dieser Revolutionen folgten auch entsprechende Führungsstile. Angelehnt an die vierte industrielle Revolution sprechen wir von Führung 4.0.

Und somit ist auch klar: Das aufgrund der technologischen Entwicklung veränderte Arbeitsverhalten bestimmt den Führungsstil. Gleichzeitig verändert sich – in engem Zusammenhang mit der Technologie – auch die Gesellschaft. Die Digitalisierung ist zwangsläufig verbunden mit einem höheren Bildungsniveau aller arbeitenden Menschen. Gleichzeitig zwingt die Mobilität der Arbeit zur Beantwortung der Frage, wie wir die gewünschte Lebensqualität erreichen können.

Welche Veränderungen gibt es also, die sich direkt auf die Arbeitswelt auswirken?

Selbstverwirklichung und Freude statt Pflicht und Gehorsam

Da die Digitalisierung die menschliche Arbeitskraft an vielen Stellen ersetzt, bleibt dem Menschen nur noch die Erledigung kreativer Arbeitsprozesse. Zusammenarbeit findet nicht nur im realen Raum statt, sondern auch virtuell. Künstliche Intelligenz bringt eine neue ungewohnte Zusammenarbeit zwischen Roboter und Mensch.

Der Wert der Arbeit verändert sich. War die Arbeit im Industriezeitalter geprägt von Pflicht und Gehorsam, so stehen im digitalen Zeitalter Selbstverwirklichung und Freude im Mittelpunkt.

„War das Führen früher geprägt durch Kontrolle, also Effektivität das Ziel, so ist es heute durch Steuerung und Motivation, also Effizienz, bestimmt. Morgen wird das schneller zum Einsatz kommende Wissen, also die Geschwindigkeit, zur Zielsetzung von Führungsverhalten.

Diese Veränderungen bestimmen die Zielsetzung von Führung. War das Führen früher geprägt durch Kontrolle, also Effektivität das Ziel, so ist es heute durch Steuerung und Motivation, also Effizienz, bestimmt.

Morgen lässt die digitale Transformation das Wissen schneller zum Einsatz kommen und entscheidet dadurch über den Erfolg einer Organisation. Damit wird Geschwindigkeit zur Zielsetzung von Führungsverhalten im Zeitalter von Führung 4.0.

Sinnhaftigkeit des Tuns im Mittelpunkt

Die parallel verlaufenden gesellschaftlichen Veränderungen erfordern, dass im Mittelpunkt des Führens die Sinnhaftigkeit des Tuns steht. Die Führungskraft muss dem Mitarbeitenden Freiräume zur Selbstverwirklichung aufzeigen und ihm ein attraktives Arbeitsumfeld bieten.

Nicht der von außen, von anderen, bestimmte Sinn macht die Arbeit wertvoll, sondern die Fähigkeit, einen Sinn in der Tätigkeit zu sehen. Dies gelingt aber nur, wenn die Tätigkeit als anspruchsvoll empfunden wird und größte Aufmerksamkeit verlangt. Einzelne Arbeitsschritte müssen also so portioniert werden, dass der Einzelne das Ganze erkennen kann, an dem er arbeitet. Der Mensch fühlt sich dann am wohlsten, wenn er sich in eine anspruchsvolle Aufgabe versenken kann, wenn er voll in einer Beschäftigung aufgeht.

„Der Mensch fühlt sich dann am wohlsten, wenn er sich in eine anspruchsvolle Aufgabe versenken kann, wenn er voll in einer Beschäftigung aufgeht.

Die Digitalisierung macht für die MitarbeiterInnen vieles einfacher und schneller. Die Routineprozesse laufen automatisiert ab und jeder kann entscheiden, wo und wann er arbeitet. Die Arbeit wird interessanter, weil sie befreit ist von der Routine, weil sie abwechslungsreicher werden kann. Dazu bedarf es dann aber auch des nötigen Freiheitsgrades, selbst oder im Team über die Fachfragen zu entscheiden.

Digitalisierung fördert die Output-Orientierung

Arbeit ist zudem nur einer von mehreren Lebensbereichen, die sich nicht voneinander trennen lassen. Es muss deshalb egal sein, wo jemand arbeitet oder wann; egal, ob jemand zum Arbeiten an einen bestimmten Ort kommt und wie lange er sich an diesem Ort pro Tag aufhält. Es ist sogar egal, ob jemand ein Meeting verlässt, um mit seinen Kindern zu telefonieren. Wichtig ist allein, dass ein bestimmtes Ergebnis erbracht wird. Digitalisierung fördert die Output-Orientierung.

Basierend auf diesem fachlichen Hintergrund diskutierten die Mitarbeitenden und Führungskräfte in sechs Gruppen die folgenden Thesen zum Führungsverhalten der Zukunft unter folgender Fragestellung:

  1. Kann man dieser These grundsätzlich zustimmen?
  2. Fehlt was bzw. was sollte ergänzt werden?
  3. Ist etwas zu viel bzw. was sollte gestrichen werden?
  4. Was muss sich an der heutigen Führungspraxis verändern und welche Voraussetzungen & Rahmenbedingungen muss die Unternehmung dafür schaffen?

THESE 1
Die Führungskräfte müssen ihre Rolle neu sehen, sie müssen neue Arbeitsweisen verankern, fördern und vorleben. Sie müssen über Vertrauen und Empathie führen.
Sie müssen loslassen können; Aufgaben durch Mitarbeitende selbstständig, eigenverantwortlich und sachkundig nach Kundenanforderungen ausführen lassen.

THESE 2
Führungskräfte sollen teamfähig sein. Sich für das Team und für die Erreichung der gemeinsamen Ziele begeistern, eigene Kompetenzen einbringen und andere akzeptieren. 

THESE 3
Führungskräfte dürfen Entscheidungen fällen, Handlungsoptionen und mögliche Lösungswege abwägen, Entscheidungsfähigkeit zeigen und Risikobewusstsein haben.

THESE 4
Führungskräfte wollen coachen dürfen. Sie haben die Fähigkeit, durch eine positive innere Einstellung und entsprechendes Verhalten, durch Kreativität und Überzeugungskraft zu wirken, zu handeln und Leistung einzufordern, Hindernisse zu beseitigen, Ressourcen aufzubauen und zu erhalten sowie Überforderung zu verhindern.

THESE 5
Führungskräfte können zuhören und unterstützen. Sie haben die Fähigkeit, sich sachlich auseinander zu setzen, Dialogfähigkeit zu entwickeln, Kontakte aufzubauen und die Interessen abzuwägen. Direkte Kommunikation ohne vertikale und horizontale Barrieren.

THESE 6
Führungskräfte sollen kompetent sein, Führungsinstrumente kennen und beherrschen, gemeinsam Arbeits- und Führungsregeln = „Spielregeln der Zusammenarbeit“ erarbeiten und einhalten.

Die TeilnehmerInnen des Workshops waren sich einig: Dies gilt für Führungskräfte, nicht für Fachkräfte, die manchmal auch führen.

Die Arbeitssituation bestimmt, ob eine Top-Fachkraft für die Aufgabe benötigt wird, die ein Team führt, beispielsweise im Operationssaal, bei einer extremen Bergtour oder bei der Feuerwehr. Oder ob eine Aufgabe zu bewältigen ist, die die Wissenskompetenz aller benötigt.

Wenn keiner einen entscheidenden Wissensvorsprung hat, die eine fachliche Führung rechtfertigt, wird eine (temporäre) Führungskraft benötigt. Diese muss fachlich nicht kompetent sein, denn das Team erledigt die Aufgabe oder das Projekt zusammen mit der Führungskraft. Die Führungskraft unterstützt nach vorher festgelegten Spielregeln (siehe Thesen), die die Rolle der Führungskraft definieren.

„Kulturwandel braucht nicht nur Akzeptanz, sondern auch viel Zeit.

Auch in einem weiteren Punkt herrschte Einigkeit: Führungsstrukturen zu ändern ist keine Aufgabe, die schnell erledigt ist. Kulturwandel braucht nicht nur Akzeptanz, sondern auch viel Zeit.